Trend-Talk: Was wird in der Männermode wichtig?

Antonio Cristaudo ist seit über 20 Jahren Trendscout der Pitti Uomo. Das heißt er ist Kopf des Teams, das weltweit unterwegs ist, um innovative Brands zu finden, die dann als Aussteller in verschiedenen Oberthemen der Presse und zahlreichen Einkäufern präsentiert werden. Die Plätze sind begehrt: Einen Stand ergattern, weil man jemanden kennt, der jemanden kennt? Keine Chance. Alle müssen das offizielle Aufnahmeverfahren durchlaufen, ganz ohne Vitamin B.
Diese Saison waren rund 24.300 Einkäufer aus mehr als über hundert Ländern zu Gast. Herbert Hofmann, Head of Buying and Creative Director des Berliner Voo Stores, ist einer von fast 900 aus Deutschland. Sein Fazit: „Diese Messe entwickelt sich kontinuierlich neu. Wieder einmal war es eine ausgezeichnete Möglichkeit, neue Brands zu entdecken und die erste Orderrunde der Saison abzuschließen. Das Fundament zu diesem frischen Ansatz liegt in der Recherche."
Antonio Cristaudo ist dem geneigten Modepilot-Leser kein Unbekannter: Wir stellten das „Orakel der Männermode“ bereits in einem Interview vor. Damals prophezeite er z.B. den Siegeszug der Trekkingsandale. Kurz bevor ich ihn nun zum Interview auf der 91. Pitti Uomo treffe, der wichtigsten Männer-Modemesse der Welt, lief ich noch entlang der Piazza del Duomo durch Florenz und vorbei am Prada-Schaufenster. Darin trohnte: eine Trekkingsandale für Männer.
Antonio Cristaudo Pitti Uomo
Antonio Cristaudo

Trend-Talk: Was wird in der Männermode wichtig?

Herr Cristaudo, gibt es eigentlich noch Trends? DIE Farbe? DER Schnitt?
Es gibt nicht mehr nur einen, sondern unzählige Trends. Aber es gibt große Überthemen, aus ihnen leitet sich alles ab: „Heritage“ ist wichtig. Also sehr traditionell, mit Wolle und Cord, aber mit modernen Schnitten oder modernen Materialien kombiniert. Der andere ist Athleisure.
Sprechen wir über den allgegenwärtigen Athleisure-Trend. Ist das ein Hype oder eine längerfristige Entwicklung?
Sehr viele Marken und Designer sind sich darüber einig, dass es nun wichtig ist, und ich muss ich zugeben, dass es auch einen sehr großen Markt dafür gibt. Ich persönlich mag diesen Trend nicht. Ich liebe Mode, aber das ist für mich keine Mode, sondern ein Stylingthema! Ich bevorzuge Menschen, die eine Idee hinter ihrem Outfit haben. Bei Athleisure geht es darum, eben nicht darüber nachzudenken, was man trägt. Für mich ist Kleidung Ausdruck der Persönlichkeit und bei Athleisure ist das nicht der Fall: Es ist die Annullierung der Persönlichkeit.
Aber es entspricht doch schon dem Zeitgeist, mit der zunehmenden Bedeutung des Sports im Alltag?
Athleisure ist momentan sehr "basic", sehr amerikanisch. Nächstes Jahr kann sich das ändern. Vielleicht gibt es eine Evolution, ähnlich wie bei Jeans. Mit hochwertigen Materialen und guten Trageeigenschaften kombiniert. Sneaker und Sweatshirts, ja, das ist sehr angenehm im Flugzeug. Aber sonst sollte man sich etwas anspruchsvoller kleiden.
Dann mögen Sie vermutlich auch Vetements nicht so gerne?
Ich liebe es! Hinter Vetements steht eine Idee (welche genau, dass erklären wir hier) und deswegen wird der Look auch so stark kopiert. Das ist etwas ganz anderes mit dem Volumen und den neuen Dimensionen.
Was ist denn ihr persönlicher Lieblingsbereich?
Neben „Unconventional“ ist das „Futuro maschile“: klassische Herrenmode, modern umgesetzt.

Eine Auswahl der Labels des Bereichs „Futuro maschile"

Anfang 2016 haben sie Unisex als einen wichtigen Über-Trend herausgegriffen. Das ist mittlerweile omnipräsent.
Absolut. Vor zwei oder drei Jahren, da haben sich nur wenige Labels damit beschäftigt und der Markt war ganz klein. Das ist nun anders: Unisex-Kollektionen sind der Zeitgeist und darum zeigen manche Marken jetzt auch Frauen und Männer zusammen.
Was ist denn aus der Feminisierung der Männermode geworden, mit den figurbetonten Anzügen?
Diese ganzen superschmalen Schnitte sind durch. Manchmal denken die Leute bei Unisex an Femininisierung der Männermode, aber das trifft nicht den Kern. Manche Teile können Männer und Frauen gleichermaßen tragen: Shirt, Sweater, Sneaker. Der einzige Unterschied ist die Größe. Wir bilden das auf der Pitti in zwei Bereichen ab: „Unconventional“, das ist praktisch geschlechtlos, eher ambiguos. Das ist vor allem für junge Menschen wichtig. Dann gibt es noch den Bereich „Open“: Hier fokussieren wir uns auf die erwachsenere Variante, sehr sophisticated. Das Geschlecht ist hier wichtig, trotzdem trifft man sich in der Mitte. Beides ist Unisex, nur mit einem anderen Ansatz.
Ein gutes Beispiel um die Unisex-Idee zu zeigen: Der Pyjama ist ein universelles Kleidungsstück, dass von Männern und Frauen gleichermaßen getragen werden kann. Hier von dem Label "Maison Marcy".
Ein gutes Beispiel, um die Unisex-Idee zu veranschaulichen: Der Pyjama ist ein universelles Kleidungsstück, das von Männern und Frauen gleichermaßen getragen wird. Hier von dem Label „Maison Marcy", das in dem Bereich „Open" die Kollektion zeigte.
Letztes Mal haben Sie die Trekking-Sandalen prophezeit. Was ist denn für nächste Saison wichtig?
Der Designerrucksack ist superwichtig! Alle Marken, egal ob klassisch oder sportlich, machen das jetzt. Weg mit den Tote-Bags, her mit den Rucksäcken!
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Aber das kann man doch nicht mit dem Anzug ins Büro tragen?
Es gibt natürlich Unterschiede und nicht nur sportliche Modelle, sondern auch sehr luxuriöse Marken widmen sich dem Thema.
Welches Key-Piece der Männermode verändert sich?
Der Mantel. Den trägt man nicht mehr klassisch schmal, sondern schön voluminös und sehr lang.
Viele sagen ja, die Mode sei momentan so expressiv, weil wir alles nur noch digital konsumieren (z.B. über Instagram), und die Bilder sehr extrem sein müssen, damit sie herausstechen.
Das gilt nur für die Modecommunity, also Designer, Shopbesitzer und Modeverrückte, etc., die sehr aktiv sind. Innerhalb dieser Gruppe sieht man sehr expressive Mode. Aber außerhalb dieses Kreises sind die Leute doch eher durchschnittlich gekleidet. Sehen Sie: In Korea ist Mode z.B. Ausdruck der Persönlichkeit. Aber in einer durchschnittlichen Großstadt in Europa interessieren sich die meisten Leute nicht besonders für „Fashion“.
Also nehmen wir es so wahr, weil wir in unserer eigenen Mode-Blase stecken?
Exakt.
Und mögen Sie eigentlich die „Pitti Peacocks“?
Nein. Zumindest nicht mehr. In den letzten Jahren hat sich das sehr verändert: Vorher war dieser Stil ein selbstverständliches und notwendiges Instrument, um sich auszudrücken. Wer da jetzt noch an der Mauer steht und sich besonders außergewöhnlich anzieht, das sind die Spatzünder und Mitläufer.
pitti uomo mauer
So mancher Gast sitzt eine halbe Ewigkeit auf der berühmten Mauer. Irgendjemand wird irgendwann schon ein Foto machen.
Jetzt geht es wieder um das „Weniger ist Mehr“. Ich zeige Ihnen was ich meine:
Er zeigt mir ein Instagram-Foto von The Sartorialist und liest die Bildunterschrift vor.
Ein von Scott Schuman (@thesartorialist) gepostetes Foto am
Der neue Look ist sehr klassisch und minimalistisch. Die neuen „Peacocks“ im Sinne von „modisch wegweisend“ haben einen zurückgenommenen Stil. Es geht um Details. Man muss genauer hinsehen.
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Photo Credit: Enrico Labriola
Modepilot ist Deutschlands erster Modeblog. Mit seiner Gründung in 2007 war und ist er Vorreiter der unabhängigen Mode-Berichterstattung. Noch heute wird die Seite leidenschaftlich von Mitgründerin Kathrin Bierling geführt. Sie ist eine ausgebildete und erfahrene Journalistin, die zunächst bei der Financial Times lernte und arbeitete und dann einige Jahre bei der WirtschaftsWoche beschäftigt war, bevor sie die Seiten Harpersbazaar.de, Elle.de und InStyle.de verantwortete. An Modepilot liebt sie, dass sie die Seite immer wieder neu erfinden muss, um am Puls der Zeit zu bleiben. Worin sie und ihre Autoren sich stets treu bleiben: Den Leser ernst nehmen, nicht sich selbst.

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