Kann Massenware mit Designermode mithalten?

Ich bin bekennender Materialfetischist. Für mich liegt der Unterschied zwischen High Fashion und Massenware in Stoffen und der Verarbeitung. Kleider von detailverliebten und perfektions-fanatischen Designern sind mein ewiges "Must-Have". Aus gutem Grund: Einmal in ein Kleid von Roland Mouret geschlüpft und man weiß: Lauter Zara-Anschaffungen kann man sich sparen – zugunsten des "real thing". Oder?

Mein Selbstversuch mit H&M

HM Jacquardkleid Dunkelblau Modepilot Sale
Dunkelblaues Jacquard-Kleid aus 75 Prozent Baumwolle
Heute kam eine H&M-Lieferung zu mir nach Hause, versandkostenfrei. Darin ein reduziertes Jacquard-Kleid in Dunkelblau. 19,99 Euro. Das gibt es noch in allen Größen: 32 bis 46. Ich zog das Kleid an und suchte gleich beim Anziehen nach Fehlern. In meinem Kopf hatte ich das Vorurteil: Es kann einfach nicht gut sein! Aber es sitzt. Zunächst einmal. Ich bin begeistert: Der Stoff, der Schnitt, die Verarbeitung ist nicht zu beanstanden. Hinten verschließt man das Kleid mit einem Steg (drei Häkchen) und einem Reißverschluss. Die drei Häkchen muss man allerdings vorab verschließen, denn ist das Kleid erst einmal übergestreift, besteht keine Chance, die Häkchen selbst zu verschließen. Und ich bin gelenkig! Man fragt sich, was die Häkchen da überhaupt sollen. Anders als bei vielen Billigkleidern sitzt die Taille auch bei meinen 1,75 m ungefähr dort, wo sie sitzen sollte. Ich schicke sicherheitshalber Fotos an meine Modejournalismus-Freundinnen und schreibe dazu: „Ratet mal…“
HM Jacquardkleid dunkelblau Sale Modepilot
Ungläubiger Blick: das 20-Euro-Kleid von H&M sitzt.
Isa ganz trocken via WhatsApp: „Es gibt ja bei Zara & Co. immer mal so Knallerteile. Das ist offenbar so eines.“ Glamours stellv. Chefredakteurin Julia Werner auch via WhatsApp: „Schön ist das, von wem? Ich komm nicht drauf!… Hammer!“
Klar, das mag ein Glückstreffer sein. Aber man fragt sich schon, wie ein Designer angesichts dieser Konkurrenz überleben soll. Stoffe, Schnitte, aufwendige Verarbeitung – das kann man heute in der Massenanfertigung günstig anbieten: Nicht zuletzt, weil es durch die hohe Stückzahl besser skaliert.

Das H&M-Kleid in der Qualitätskontrolle

Bei knapp 20 Euro sollte man eigentlich nicht meckern. Nur 20 Euro, die ungetragen im Schrank hängen bleiben, entsprechen nun mal einer Pasta, einer Rhabarberssaftschorle, einem Espresso und einem großen Eis bei mir unten im italienischen Restaurant. Drum darf ich die Wermutstropfen bei dem vermeintlichen Schnäppchen hier einmal auflisten:
1) Ich weiß nicht, wo die Baumwolle herkommt (das Kleid gehört nicht zur H&M Conscious Collection, ist dafür aber ein „Online Exclusive“) und ich weiß auch nicht, wer es gefertigt hat. An der Stelle muss man sagen: Die wenigsten Marken, auch nicht die Luxuslabels, gestalten ihre Produktionskette transparent. Mit bestem Gewissen kann man nur bei Marken kaufen, die eine komplette Transparenz bieten wie beispielsweise Hessnatur oder Honest by von Designer Bruno Pieters.
2) Die Farbvarianz, wie auf dem Produktfoto (ganz oben), entspricht nicht der Realität.
3) Das Material des Unterkleids/des Futterstoffes besteht aus 100 Prozent Polyester.
4) Während ich diesen Text hier schreibe, stülpt sich die schmale Stoffbahn des Oberteils, die ihr auf den Fotos auf Taillenhöhe seht, nach oben. Sie ragt etwas über den Rockteil und soll die Taillennaht verdecken, was an sich eine gute Idee ist. Nur leider dreht sich diese Abdeckung auch beim Herumlaufen von alleine auf links. Dann sieht man auch den weniger schönen Polyester-Futterstoff dahinter – nicht gut!
5) Passform. Kann sein, dass mir das Kleid in Größe 34 einen Ticken zu klein ist (deshalb stülpt sich die Taillennaht-Abdeckung hoch), aber in Größe in 36 ist es mir zu weit: An der Taille und am Oberkörper steht es dann wie ein Fremdkörper ab.

Mein Fazit zum H&M-Kleid

Ne, da schlüpfe ich doch lieber wieder in meine Kleider von Dior, Talbot Runhof, Roland Mouret oder Hessnatur. In denen kann ich mich bewegen, habe eine gute Taille und ein gutes Gewissen.
Talbot Runhof Modepilot 2016
Hier trage ich ein Kleid von Talbot Runhof und Schuhe von Aquazzura
Photo Credit: Modepilot, H&M
Modepilot ist Deutschlands erster Modeblog. Mit seiner Gründung in 2007 war und ist er Vorreiter der unabhängigen Mode-Berichterstattung. Noch heute wird die Seite leidenschaftlich von Mitgründerin Kathrin Bierling geführt. Sie ist eine ausgebildete und erfahrene Journalistin, die zunächst bei der Financial Times lernte und arbeitete und dann einige Jahre bei der WirtschaftsWoche beschäftigt war, bevor sie die Seiten Harpersbazaar.de, Elle.de und InStyle.de verantwortete. An Modepilot liebt sie, dass sie die Seite immer wieder neu erfinden muss, um am Puls der Zeit zu bleiben. Worin sie und ihre Autoren sich stets treu bleiben: Den Leser ernst nehmen, nicht sich selbst.

Kommentare

  • Katharina sagt:

    Einen besseren Schnitt gibt's bei Dior bestimmt - aber ob Du da ein besseres Gewissen haben kannst? Laut Kurz Heck erhält das Lamellen in Sachen Nachhaltigkeit die niedrigste Wertung vor allem wegen Intransparenz (jetzt mal ganz abgesehen davon, dass die meisten Frauen sich kein Diorkleid leisten können).
  • Katharina sagt:

    Argh autocorrect- soll heißen "Kurzcheck" und "Label" (statt Lamellen) - sorry
    • Kathrin Bierling sagt:

      Liebe Katharina, kein Problem. Ich weiß ja, was Du meinst. Was das Dior-Kleid angeht: Ich erkenne zumindest an der Verarbeitung (z.B. daran wie das Futter vernäht ist oder wie Knöpfe bezogen sind), dass es sich um gut ausgebildete Schneider handeln muss, die dieses Kleid erstellt haben. Schneider, die auch ausreichend Zeit bekamen. Das ist doch schon mal was!

      Liebe Grüße,

      Kathrin


  • kathrin Leist sagt:

    Ich kaufe schon lange nichts mehr bei H&M und Zara, aber deshalb darf ich noch lange keine gutes gewissen haben. sind teure Kleider leider nicht unbedingt fairer produziert. der einzige Ausweg. Nur noch Bruno Pieters und Second Hand kaufen. Aber dann kann man keinen Fashionblog mehr schreiben. Der Stoff reicht einfach nicht...bisous de paris
    • Kathrin Bierling sagt:

      Liebe Kathrin, schreib doch wie Du Bruno Pieters mit Sachen aus dem Secondhand Landen kombinierst. Das fände ich sehr interessant und es wäre sicherlich auch inspirierend für viele andere. Es gibt immer genug Stoff!

      Liebe Grüße, Kathrin


  • Caramia sagt:

    Sehr schöner Artikel zu dem Thema. Ich kaufe für mich selber auch eigentlich nur Designersachen. Da sagt mittlerweile auch keiner mehr groß was.
    Allerdings werde ich immer ein bisschen schräg angeschaut, wenn ich meinen Lieblingsshop für die Kids erwähne oder ihn jemandem empfehle (falls es wen interessiert: http://www.nickis.com/ - weiß nicht, ob den jemand kennt, der ist auf Designermode für Kids spezialisiert. Aber Vorsicht: Akute Kaufrausch-Gefahr!). Da heißt es dann gleich: "Die wachsen doch so schnell raus. Das lohnt sich nicht! 80 Euro für ein T-Shirt?" etc. Aber ich setze für meine Kids einfach dieselben Maßstäbe an wie für mich, und das heißt zum Beispiel: Lieber etwas weniger kaufen und dafür dann "richtige" Sachen. Man merkt einfach einen Unterschied sowohl von der Verarbeitung als auch vom Design her. Ich finde es auch schön, wenn mein Kind nicht im Einheitslook mit allen anderen rumläuft.
    Gerade dein Kleid von Talbot Runhof auf dem unteren Foto ist ein schönes Beispiel: Das ist was Außergewöhnliches, ein Hingucker, was mit Stil. Und hebt sich eben von der Masse ab.
  • Cornelia Feller sagt:

    Ein Vergleich von Birnen mit Äpfeln! Man kann ein High Fashion Teil wobei schon der Wareneinsatz (Stoff, Zutaten) viel höher ist nicht mit einem Teil von der Stange vergleichen! Ebenso arbeitet die Industrie schnittlich mit einer Körpergröße von 1,68 m, d. h. die Proportionen sind darauf abgestimmt (z. B. Taille, Länge des Kleidungsstückes).
    • Kathrin Bierling sagt:

      Liebe Cornelia Feller, vielen Dank für Deinen Kommentar! Es sollte in meinem Test darum gehen, aufzuzeigen, dass dem IMMER NOCH so ist – also, dass man nach wie vor High Fashion nicht mit günstiger Mode vergleichen kann – manchmal könnte man das ja glauben, da die günstige Mode immer schneller und besser mit der Designermode mitzuhalten scheint. Zur durchschnittlichen Körpergröße: Da warte ich gerade noch auf die Rückmeldung von Talbot Runhof – wäre ja spannend zu wissen, ob die durchschnittliche High Fashion Kundin auch 1,68 m groß ist. Liebe Grüße, Kathrin
      • Kathrin Bierling sagt:

        Liebe Conny, nun weiß ich Bescheid: bei Talbot Runhof arbeitet man mit einer Körpergröße von 1,75 m, was meiner Körpergröße entspricht. Ich habe aber mittlerweile auch anderweitig recherchiert und gehe davon aus, dass auch bei Marken wie H&M die Durchschnittsgröße mittlerweile angehoben wurden: 1,68 m war einmal. Allein in Deutschland sind die Frauen schon 1,71 m im Durchschnitt groß – das ergab eine Erhebung von 2014. In Schweden sind die Frauen noch größer. Und das H&M-Kleid saß passte mir in Größe 34 ziemlich genau auf der Taille. Liebe Grüße, Kathrin
        • Cornelia Feller sagt:

          Liebe Kathrin, ja nun weißt Du , Talbot Runhof passt optimal für Deine Körpergröße. Ein Gardemaß für ein High Fashion Produkt! Wie Deine Recherche ergab, arbeitet H&M mit einer Körpergröße von 1,71m. Wir wissen es ist ein schwedischer Hersteller im jungen Bereich. Die 1,68 würde ich nicht direkt abschreiben, denn es kommt auf die Zielgruppen einzelner Bekleidungshersteller an..... Fakt ist, wir deutschen werden immer länger und nehmen im Umfang zu! Wer mehr über deutsche Körpermaße erfahren möchte, kann sich beim Hohensteiner Institut eigehend informieren. Es führt seit 1957 regelmäßig Reihenmessungen an der deutschen Bevölkerung und die Maße der Industrie basieren auf deren Ergebnisse. Interessant ist der Artikel dazu, Passend für jede Zielgruppe. Viele liebe Grüße, Conny
  • Egalist88 sagt:

    Der Inhalt jedes Altkleidercontainers kann mit Designermode mithalten und dient ganz offensichtlich

    als Quelle der Inspiration dafür.