Neues vom Beauty Pro: Porentief nachgefragt

Männer lieben an Frauen Natürlichkeit

Der Begriff „natürliche Frau“ entstammt eindeutig dem männlichen Wortschatz. Erstens würde keine Frau einem Mann das Attribut „natürlich“ aufdrücken. Zweitens weiß jede Make-up-erfahrene Frau von sich selbst, dass es mit der Natürlichkeit meist keinen Blumentopf zu gewinnen gibt und dass hinter einer Optik, die auf den Mann natürlich wirkt, nicht selten viel Arbeit steckt. Eine wirklich natürliche Schönheit findet man in der Regel nur bei sehr jungen Mädchen, und die sind meist erst recht auf dem Schminktrip, um „als Frau“ wahrgenommen zu werden.
Jil Sander Modepilot Sommer 2022 Natürlichkeit
Nach einer Stunde Schminken: 'natürlicher Look' backstage bei Jil Sander, Frühjahr/Sommer 2022
Männer sagen „Wir mögen natürliche Frauen.“ Da muss ich schon immer schmunzeln, wenn genau diese Typen trotzdem auf Instagram Bilder von Mädels liken, die ganz offensichtlich mehrere Schönheits-OPs und dicke Schichten Make-up im Gesicht haben oder die Fotos offensichtlich gefiltert sind. Anschauen und flirten gut, aber so eine „Plutoniumbombe“ zu Hause haben − bloß nicht.
Selbst bei Tinder werden von Männern als Partnerin „natürliche Frauen“ bevorzugt. Nicht überschminkt, nicht overstyled, nicht unterspritzt und schon gar nicht operiert. Das trifft sich auch mit der Ideal-Vorstellung der meisten Kandidaten in der Dating-Show „Die Bachelorette“.

Bloß keine Plutoniumbombe

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Backstage bei Lacoste, Frühjahr/Sommer 2022
Eine Frauenzeitschrift hat eine repräsentative Umfrage mit über 1.000 Männern zwischen 18 bis 65 Jahren durchgeführt. Ergebnis: Ein bisschen Unschuld und echte Natürlichkeit − Davon fühlen sich 79 Prozent angezogen. Darunter verstehen 78 Prozent einen Typ Frau, mit dem man Pferde stehlen kann. Aha, Wildwest-Romantik! 55 Prozent sind zudem der Meinung, dass sich Romantik und Erotik bestens ergänzen.
Nur jeder dritte Mann findet Rebellinnen sexy. Und die Hälfte aller befragten Männer findet eine sehr eigenwillige Frau als Partnerin zu anstrengend. 87 Prozent der Befragten erklärten, für eine Beziehung müsse eine Frau ihnen mehr bieten als körperliche Reize. Nur 19 Prozent sind besonders stolz, wenn sie eine Sexbombe erobert haben.

Irren ist männlich

Damit wir uns hier nicht falsch verstehen. Die Frau an seiner Seite soll zwar super toll aussehen, aber gleichzeitig den Anschein vermitteln, als kümmere sie das nicht die Bohne. Doch genau darin besteht das Missverständnis. Der Mythos nährt sich von der männlichen Sicht, dass eine schöne Frau nicht mehr benutzt als Hautcreme − und nicht mal das. Sicher gibt es vereinzelt solche Phänomene, obwohl ich es bezweifle.
Die Mehrzahl der Frauen greift zu Pflege und Schminke, um sich wohler zu fühlen. Deshalb werden selbst bei einem Minimal-Make-up Rötungen und Augenringe abgedeckt, die Wimpern getuscht und die Wangen für natürliche Frische rougiert. Ihnen geht es in erster Linie um eine ebenmäßige Haut, große, strahlende Augen und schöne Lippen. Das ist auch, was Männer landläufig unter natürlich verstehen, nämlich wenig Make-up.
backstage Natürlichkeit Modepilot
Auch für diesen Look wurde der Make-up-Koffer geöffnet: Backstage bei Marine Serre, Frühjahr/Sommer 2022
Doch der „No Make-up“-Look, wie ihn sich viele Celebrities, Models und Influencerinnen von Visagisten ins Gesicht pinseln lassen, kann richtig aufwändig sein. Da wird eine Stunde lang mit Primer, Foundation, Concealer, Contouring-Farben, Puder, Highlighter, verschiedene Brauen-Produkte, Mascara und Rouge hantiert bis endlich die vielgerühmte „natürliche Schönheit“ zum Vorschein kommt.

Was ist ein Mascara?

Die meisten Männer kennen diese Produkte mit Sicherheit nicht. Carsten Maschmeyer fragte sogar: „Was ist denn ein Mascara?“, als in der „Höhle der Löwen“ die Gründerin eines Kosmetikunternehmens ihr schweißfestes Sport-Make-up einer reinen Männerrunde präsentierte. Aber jeder Kerl, der sich schon mal mit einer Frau ein Badezimmer geteilt hat, hat dort ihre Batterie an Kosmetik-Produkten und Schminkutensilien stehen sehen. Und die ist gerade bei Veronica Ferres zu Hause sicher nicht zu übersehen.
Und auch Männer laufen mal durch einen Drogeriemarkt. Wenn sie nicht gerade die Augen geschlossen oder ihren Tunnelblick aufgesetzt haben, müssten sie die Regalmeter an Kosmetika gesehen haben. Die sind ja nicht zu Ausstellungszwecken dort aufgereiht, sondern werden gekauft und auch benutzt − und zwar auch von euren Frauen, Jungs!

Schluß damit!

Dieses Gerede von der natürlichen Frau ist heuchlerisch. 50 Prozent aller Frauen schminken sich sogar, bevor sie ins Fitness-Studio gehen. Sei es um ihrer selbst willen oder auch, weil das Studio mitunter eine gute „Kontaktbörse“ bietet. Also können Männer noch nicht mal unter dem Schweißband pure Natürlichkeit erwarten. Deshalb hört auf davon zu schwärmen.
Schließlich ist es den Männern ja auch nicht recht, wenn Frauen der Natürlichkeit ihren Lauf lassen und sich weder Achseln noch Beine rasieren. Dann ernten sie in sozialen Netzwerken eher hämische Kommentare vom anderen Geschlecht.

Das ist zu oberflächlich

Wie sehr unsere Gesellschaft trotz aller Gender-Diskussion immer noch in alten Mustern verhaftet ist, sieht man am Beispiel der österreichischen Autorin (neues Buch: „Riot, don’t Diet“) und Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner, die sich seit Jahren mit dem Thema Schönheit und Body Positivity auseinandersetzt. Zu einem Foto, auf dem sie eine rote Bluse und dazu passenden Nagellack und Lippenstift trägt, gab es mehr als 1.500 Kommentare. „Die meisten diskutierten, wie ich aussehe, teilweise beleidigend“, erklärt Lechner. „Als Wissenschaftlerin, die über Aussehen und Diskriminierung forscht und die notwendigerweise ein Aussehen hat, ist es doppelt schwer, Leute dazu zu bringen, sich auf das Gesagte zu konzentrieren.“
Für sie ist es eine weitere Bestätigung dafür, dass wir in einer „zutiefst lookistischen Gesellschaft“ leben, in der Menschen auf Grund ihres Aussehens bewertet, stereotypisiert und abgewertet werden. Und so geht es mir auch bei dem Märchen von der „natürlichen Frau“: Wer einen knallpinken Lippenstift trägt, wird anders bewertet als jemand, der mit Naturfarben oder gar nicht geschminkt ist. Das ist zu oberflächlich.
Mehr von unserer Autorin Margit Rüdiger lesen Sie jeden Freitag hier auf MODEPILOT.de – Ihre bisherigen Kolumnen gibt es hier >>> und mehr auf ihrem Blog Culture & Cream (>>>) Fragen, Wünsche, Feedback? Sie erreichen unsere Kolumnistin unter beautypro[@]modepilot.de
Photo Credit: Catwalkpictures
Modepilot ist Deutschlands erster Modeblog. Mit seiner Gründung in 2007 war und ist er Vorreiter der unabhängigen Mode-Berichterstattung. Noch heute wird die Seite leidenschaftlich von Mitgründerin Kathrin Bierling geführt. Sie ist eine ausgebildete und erfahrene Journalistin, die zunächst bei der Financial Times lernte und arbeitete und dann einige Jahre bei der WirtschaftsWoche beschäftigt war, bevor sie die Seiten Harpersbazaar.de, Elle.de und InStyle.de verantwortete. An Modepilot liebt sie, dass sie die Seite immer wieder neu erfinden muss, um am Puls der Zeit zu bleiben. Worin sie und ihre Autoren sich stets treu bleiben: Den Leser ernst nehmen, nicht sich selbst.

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